Eine russische Kreisstadt – und was das bedeutet

„Der größte Fehler, den Geflüchtete machen können: Dass sie davon ausgehen, dass hier alles so ist, wie bei ihnen“, sagt Artjom zu mir, als wir über das Schicksal einer geflüchteten Familie, die er kennt, sprechen. Er präzisiert: „Wenn man ihnen sagt, schau mal, hier, wir können dir ein Häuschen in einer Kreisstadt anbieten, dann nehmen sie das an, weil sie denken, Kreisstadt, ja, das ist ja dann eine größere, entwickelte Stadt.“ Und genau das sind Kreisstädte in Russland nämlich nicht. Ich war in Semjonow, einer Kreisstadt in der Oblast Nischni Nowgorod, und hab extra auf mein Mittagessen verzichtet, um ein paar Fotos für euch zu machen und daran das Prinzip russische Provinz zu erklären.

„Eine Kreisstadt, das ist oft einfach ein Dorf mit Kreisverwaltung“, sagt Artjom. Deshalb jetzt: Willkommen in Semjonow, einem Dorf mit Kreisverwaltung.

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Der Bahnhof von Semjonow.

Semjonow hat einen Bahnhof und liegt auf der Transsib-Strecke, also ist die Anbindung überallhin sehr gut. Nicht jede Kreisstadt hat das Glück.

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Der Bahnhof von Semjonow, andere Seite.

Gibt auch coole Lokomotiven da:

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Lustige Lokomotive in Semjonow.

Geld fließt in der Regel nicht in Kreisstädte, sondern in Landeshauptstädte oder, natürlich, nach Moskau. Die Straßen in Semjonow waren noch halbwegs okay geteert, die Gehwege oft eher Matsch.

Was man in den größeren Städten eher weniger sieht, dafür in der Provinz und damit in den Kreisstädten sehr oft, sind die sehr liebevoll gebauten russischen Holzhäuschen.

Manche davon sind ein bisschen schief.

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Schiefes Holzhaus in Semjonow.

Wer nicht in einem Holzhaus wohnt, wohnt klassischerweise in der Platte. Chruschtschowkas heißen die Dinger, eines der wenigen Dinge, die von meinem Russlandstudien-Studium hängengeblieben sind – und die Chruschtschowkas haben nur fünf Stockwerke, weil man ab dem sechsten einen Aufzug einbauen müsste.

Das die Balkone zugebaut sind, muss übrigens so. Sie dienen in der Regel (auch in größeren Städten) nicht als Abhängort, sondern als Abstellraum für alles, was in der Wohnung keinen Platz findet oder für die Wintervorräte.

Und manchmal steht einfach eine kleine Villa zwischen all den andern Häuschen:

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Villa in Semjonow.

Ganz besonders begeistert hat mich das Postgebäude.

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Postamt in Semjonow.

Keine russische Stadt ohne Garagen, übrigens. Hier wird oft alles gemacht, außer Autos unterzustellen. Der Vater einer guten Freundin (nicht in der Kreisstadt, sondern in einer Landeshauptstadt) hat darin seine Werkstatt, in die er sich verkriecht, wenn er mal raus will.

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Garagen in Semjonow.

Süße Katzis gibt’s natürlich auch in der Provinz. ❤

Und „böse Hunde“, wie das Schild warnt, für die es allerdings lustige Hundehütten random am Straßenrand gibt, wie es scheint.

Fahrräder sieht man in der Provinz deutlich häufiger als in größeren Städten.

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Fahrrad in Semjonow.

Semjonow war aber auch ohne Fahrrad ganz gut erschließbar, ich habe alle drei Parks der Kreisstadt abgeklappert. Hier der „Park der kulturellen Erholung“.

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Birken im Park der kulturellen Erholung in Semjonow.

Einen „Park des Sieges“ gibt es natürlich auch, ohne viel Grün, dafür mit vielen Denkmalen.

Und den „Park der Lebenden und der Toten“ direkt am Bahnhof mit einem Denkmal für die Opfer der politischen Repressionen – womit ausschließlich die Stalin-Zeit gemeint ist, an heute denkt dabei keiner.

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Denkmal für die Opfer der politischen Repressionen.

Schönen Müll gibt’s auch in russischen Kleinstädten, und zwar aus Autoreifen. Eigentlich liebe ich die Schwäne aus Autoreifen sehr, aber in Semjonow habe ich keine gefunden. Stattdessen aber Straßenbegrenzungen und Blumenbeete, auch gut.

Überhaupt ist Improvisieren das Ding. Treppenstufen? Lass doch mal ’nen Holzklotz hinlegen. Funktioniert auch als Brücke.

Stromkästen muss man nicht unbedingt schließen.

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Strommast in Semjonow.

Überhaupt ist es fürs deutsche Auge sehr lustig zu sehen, dass einfach alles oberirdisch verbaut wird.

Was sehr gut ist an der Provinz: Schnee liegt hier meist früher, länger und zuverlässiger als in der Großstadt:

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Das obligatorische Kulturhaus und Lenin dürfen natürlich nicht fehlen.

Und für alle, die bis hierher durchgehalten haben, noch ein paar süße Matrjoschka-Bilder, weil in Semjonow nämlich viele der berühmten Puppen hergestellt werden:

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